Freitag, 9. Dezember 2011

Der Wichtigtuer - ein Niedergang


Laut Egon Friedell gibt es für jede Zeit einen „Repräsentativmenschen“, einen Menschen also, der für seine Zeit typisch ist, der ihre Ideen und Konzepte verkörpert. Dabei handelt es sich nie um individuelle Menschen, sondern um einen idealen, prototypischen Charakter, der alle Absonderlichkeiten seiner Zeitgenossen in sich vereint. Zwischen 1815 und 1848 etwa gab es den Beidermeier, in den 1980ern den Yuppie und hier zeigt sich schon, dass solche Charaktere nicht nur Kinder ihrer Zeit, sondern vor allem ihrer jeweiligen Sozietät sind. So fragwürdig das Postulat eines Repräsentativmenschen auch sein mag, ist es doch unbestreitbar, dass uns genau so einer vorschwebt, wenn wir über Zeiten, Völker oder Regionen sprechen.

Jede Zeit hat ihre Geister, und so müssen wir uns fragen, welche Geister „unsere“ Zeit hervorgebracht hat. Was ist der Repräsentativmensch unserer Gegenwart und wie zeigt er sich uns? Meiner Meinung nach ist es der Wichtigtuer. Ein Mensch, der sich selbst wichtiger nimmt als nötig und im gleichen Schritt allen anderen unterstellt, sie würden selbst nicht wichtig genug sein und ihn, den Wichtigtuer, nicht wichtig genug nehmen. Zudem zeichnet sich der Wichtigtuer dadurch aus, dass er einen unbedingten Drang zum Erfolg hat. Erfolg stellt sich bei ihm nicht ein, Erfolg ist der Zweck allen Handelns und um den Erfolg zu erlangen, ist ihm jedes Mittel recht. Den Erfolg, ist er ihm einmal beschieden, braucht er nicht unbedingt, um sich darin zu sonnen (dafür besucht der Wichtigtuer Solarien oder wählt wichtige, sonnige Urlaubsdestinationen), sondern vor allem, um ihn anderen unter die Nase zu reiben. Und: Einmal erreicht, dient ihm der Erfolg zur Rechtfertigung aller seiner Schandtaten (iustificatio a posteriori).

Dass dem Wichtigtuer der Schein heilig ist und sich das Sein erst über den Schein einstellt, erkennt man an dem Heiligenschein, den er stolz durch die Welt trägt. Schuld ist er an nichts, denn um schuldig zu sein, ist er viel zu wichtig – und außerdem: Sein Erfolg gibt ihm immer Recht. Es ist ein wasserdichtes Lügenkonstrukt, das er gesellschaftliches Leben nennt, gebaut auf dem Fundament maßloser Selbstüberschätzung und Standesdünkel (Stichwort „Klassenkampf von oben“). Sein Überleben garantiert die andauernde Auseinandersetzung mit ihm durch andere. Man muss sich für ihn interessieren, sonst verliert er seinen Zweck und seine Selbsterfindungsmaschine läuft leer. Um interessant zu bleiben, tut er so ziemlich alles. Sollte dabei etwas schief gehen, nennt er sein Unternehmen „vorerst gescheitert“.

Damit ist auch schon ein Exemplar dieses Typus benannt: Karl-Theodor zu (!) Guttenberg, und das am besten noch mit „Freiherr“ vorne dran, wenn ihm schon der Doktor abhanden gekommen ist. Seine mediale Selbstinszenierung bis zum Dissertations-Eklat war geprägt von ganz offen zur Schau getragenen Narzissmus und trotzdem gelang es ihm, die Mehrheit der Deutschen davon zu überzeugen, dass er anders wäre als die anderen Politiker. Jung und erfolgreich: Dieses Begriffspaar dient am besten zur Beschreibung der sozialen Wahrnehmung eines Wichtigtuers. Dass ein Teil dieses Erfolgs Guttenberg mit dem adeligen Erbe in die Wiege gelegt wurde, dafür kann er nichts. Dafür aber, dass ein anderer Teil seines Erfolgs (der Doktortitel) ihm zu unrecht zukam, kann er sehrwohl etwas. Doch das will er nicht einsehen. Der Rest seines Erfolgs bleibt ein scheinbarer, denn über seine Errungenschaften während seiner politischen Hochzeit, ist man sich nach wie vor im Unklaren.

Da hat es sein österreichisches Pendant schon etwas leichter. Denn er wird immer noch von vielen als der „beste Finanzminister der Zweiten Republik“ bezeichnet. Das muss Karl-Heinz Grasser jedoch damit büßen, dass er ein bisschen tiefer im Schlamassel steckt als Guttenberg. Seine ekelhafte Fönfrisur blieb bisher nur deshalb von dem Dreck, in dem er steckt, unbehelligt, weil er es nach wie vor ganz gut versteht, sich selbst am Schopfe wieder rauszuziehen. Ansonsten nimmt auch er sich wichtiger als er eigentlich ist. Peinliches Zeugnis war sein TV-Auftritt, in dem er, der Obernarziß, schamlos aus einem Fanbrief zitierte, wo doch tatsächlich sinngemäß drinnen stand, dass er zu schön, zu gut und zu erfolgreich für die österreichische Neidgesellschaft sei. Dass sich solche Gedanken in den Köpfen mancher Bürger finden lassen, überrascht nicht. Dass aber Grasser selbstverliebt genug ist, einen solchen Brief der Öffentlichkeit vorzulesen, macht fassungslos. Auch er eine Existenz ohne Essenz, ein Typus mehr als ein Charakter, eigentlich eine traurige Schaubudenfigur in einem Stück, das hoffentlich bald niemanden mehr interessiert...

Doch Wichtigtuer lassen sich nicht nur in der Politik finden (andere Beispiele sind natürlich Gadaffi, Berlusconi, Putin, Chavez, Castro, Ahmadinedschad). Auch gibt es volksnähere Wichtigtuer für die sogenannte Unterschicht, die im Populärkulturbetrieb. Dazu zählen nicht nur gefühlt alle deutschen Rapper, sondern vor allem auch Dieter Bohlen. Dem gibt der Erfolg nämlich auch überhaupt nicht recht. Er mag vielleicht etwas von Popmusik verstehen (tut er das wirklich?), aber rechtfertigt das sein Benehmen, seine Dauerpräsenz, seine Sendungen und das, was er darin macht? Überdies verkörpert Dieter Bohlen eine Seite des deutschen massentauglichen Wichtigtuertums, die sich mit den Requisiten La-Martina-Hemd, Dummchen mit Hündchen als Freundin, Lieblingsdomizil Mallorca und Jet-Set-Koketterie als redundant, fast schon gestrig wirkend ausnimmt. Womöglich handelt es sich bei Bohlen um einen der letzten seiner Art, um die Krone der Schöpfung im Reich der Bobo-Popstars.

Überhaupt scheint mir die Ära des Wichtigtuers bald zu Ende zu gehen. Mit dem Erwachen der Krisengesellschaft und dem allgemeinen und wiedererstarkten Misstrauen in die fachlichen Fähigkeiten von Politikern wird auch der Wichtigtuer zunehmend kritischer beäugt. Man nimmt ihm seinen Schmäh nicht mehr ab bzw. vermutet man hinter seiner lästigen Selbstdarstellung immer öfter einen psychischen Defekt (Kompensationsverhalten) und hält Leute wie ihn für die eigentliche Wurzel allen gesellschaftlichen Übels. Die verzweifelte Reaktion des Wichtigtuers ob dieser fortschreitenden gesellschaftlichen Marginalisierung, die sein Typus erfährt, ist das Burn-Out. Hier hängt er wie Jesus am Kreuz und schluchzt Mitleid heischend in die Welt hinaus, wie schlecht es ihm doch ginge, dass auch er Opfer des Systems sei und nun, unverdientermaßen krank geworden, sein Joch nicht mehr zu tragen fähig ist. Man möge ihn durch Beachtung erlösen oder ihm zumindest eine entsprechende Abfindung zahlen, damit er sich aus dem Staub machen und endlich in der Versenkung verschwinden kann, um dann ein paar Jahre später wieder in einer Fernsehsendung nach dem Motto „Was wurde eigentlich aus...“ wieder aufzutauchen und entschuldigend in die Kamera grinsen zu können – im Privatfernsehen versteht sich, denn das ist sein angestammtes Soziotop. Das Dschungelcamp gibt es ja leider nicht mehr, aber bis dahin wird sich schon etwas anderes (er)finden lassen.

Ein Licht am Ende des Tunnels möchte ich den gerade erst begonnenen Niedergang des Wichtigtuers nicht nennen. Aber dennoch bietet sich eine Chance für einen Neubeginn im Sinne einer Reinterpretation dieser Figur. Wichtigtuer hat es nämlich auch vorher schon gegeben. Da war zum Beispiel jene Generation, die den Krieg überlebt und aus seinen Folgen gelernt hat. Eine Generation, die sich in Demut geübt und, davon ausgehend, das Sich-wichtig-Machen als „rhetorischen Lebensentwurf“ dazu nützte, um tatsächlich auch wichtig zu sein. Der Unterschied zu der heutigen Generation von Wichtigtuern ist neben der erwähnten Gründung in Demut das intellektuelle Kapital, das diese Wichtigtuer hatten. Sie nahmen sich wichtig und die Leute waren dankbar dafür. Sie nahmen sich wichtig und durften es auch, weil sie das nötige Rüstzeug dafür mitbrachten: Intelligenz, Denkbereitschaft, Umsicht und Geschichtsbewusstsein. Außerdem waren sie nicht bildungsfern, ganz im Gegenteil möchte man sie fast gelehrt nennen (auch in dieser Hinsicht ist Guttenbergs Doktorarbeits-Skandal mehr als nur ein akademisches Sandkastengeplänkel). Wenn Hemlut Schmidt einmal das Zeitliche segnet, wird vielleicht der letzte dieser Generation gegangen sein.

Dass der Wichtigtuer Repräsentativmensch unserer Zeit ist, mag unserer Gesellschaft kein gutes Zeugnis ausstellen. Aber es lässt zumindest Raum für Ärger und Unmut über Inkompetenz an falschen Orten. (Damit meine ich jetzt nicht die occupy-Bewegung, deren Feindbild ein Konglomerat aus höchst diffusen und allgemeinen Konzepten ist.) Es lässt Zeit, wieder Demut zu lernen und dabei bleibt zu hoffen, dass es diesmal keinen Krieg dazu braucht - obwohl die Verliebtheit der westlichen Gesellschaft in apokalyptische Szenarien dies nahe leg:. Was früher die Angst vor einem Krieg war, ist heute die Angst vor Umweltkatastrophen und/oder Seuchen a la EHEC, Vogel-, Schweine- und sonstigen Grippen, HIV etc. oder die Angst vor dem „Umsturz der Verhältnisse“ (Kleist) in Form von irgendwelchen Systemkrisen. Vielleicht entdeckt die nächste Generation, dass Kompetenz nicht immer nur „Inkompetenzkompensationskompetenz“ (Odo Marquard) sein kann. Und vielleicht tun wir uns dann auch wieder leichter damit, Anerkennung denjenigen zukommen zu lassen, denen Anerkennung gebührt (was uns momentan ja noch durch die Mechanismen der sogenannten „Neidgesellschaft“ großteils verwehrt bleiben muss) und vor allem im Gegenzug jenen Anerkennung zu verwehren, denen sie nicht gebührt.

Das Beklatschen und Verhätscheln von nicht Beklatschens- und Verhätschelnswerten ist im übrigen nicht unwesentlich der political correctness geschuldet, von der sich zu verabschieden das Programm einer „neuen“ Aufklärung sein muss. Die denkbehindernde und denkverhindernde Wirkung der political correctness ist mit den repressiven Gedankenkonstrukten eines religiösen Fundamentalismus vergleichbar. Die Wichtigtuer haben die Spielregeln der PC gekonnt genutzt und ausgenutzt, und zwar solange, bis sie selbst zu politisch korrekten Heiligenfiguren wurden und sich damit jeglicher Kritik entzogen haben. Der langsame aber stetige Niedergang dieser Heiligenverehrung ist die Götzendämmerung unserer Zeit. Die Aufhebung von Denkverboten bedeutet jene Freiheit, die wir einmal gemeint haben, da wir das Wort „Freiheit“ zum ersten Mal in den Mund nahmen. Doch sie fiel dem Misstrauen gegenüber bzw. der Angst vor der selbstregulativen Funktion des Denkens, dass alles denkbar sein muss und sich das am besten Denkbare durchsetzen wird (= Rational-Darwinismus), zum Opfer.

Dem Wichtigtuer weinen wir keine Träne nach, denn wir erkennen, dass wir uns geirrt haben. Und Irren ist nicht nur menschlich, weil es der Mensch tut, sondern vor allem weil es die conditio humana selbst ist (Goethe). Erst aber das Erkennen des Irrtums ist das wahre Denken und erst das Eingestehen des Irrtums ist wahre Demut. Deswegen kann Karl-Theodor zu Guttenberg nicht eingestehen: weil ihm als Wichtigtuer die Demut fehlt.

3 Kommentare:

  1. Exzellent. Wird einmal in deinen Memoiren stehen.

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  2. ja da schau her. so gelehrt kommst du ja nur ganz selten daher, schade eigentlich!

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  3. der like-daumen ist erhoben :)

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