Samstag, 30. April 2011

Der Lodenbeidl


Am Stadtplatz herrscht Unruhe. Etwa 20 holländische Jugendliche, wie man diese Brut an unreifen, sich selbst in die Stumpfheit saufenden jungen Menschen nennt, brüllen herum. Einige sitzen auf den Stufen des ehemaligen Amtsgebäudes, andere stehen vor den Auslagen des Souvenirgeschäfts, tappen die Scheibe an und schreien, was für eine Scheiße da verkauft werde. Natürlich haben sie ganz Recht, aber erstens sind die Sachen, die ein Souvenirgeschäft so verkauft es gar nicht wert, sie einem ästhetischen oder qualitativen oder sonst irgendeinem Urteil auszusetzen, und zweitens sind ja auch viele dieser Dinge ganz absichtlich so gemacht, dass man sie "Scheiß" nennen kann. Gemacht für genau solche Menschen, die diesen Scheiß dann auch kaufen, nicht weil er ihnen gefällt, sondern weil sie ihn irgendwie witzig finden. Oder sie kaufen ihn, weil sie nicht wissen, was sie damit anfangen sollen, so einfach ist das. Auch diese jungen Holländer werden vermutlich am nächsten Tag, ausgenüchtert, am Nachmittag durch die Stadt schlurfen und in solchen Geschäften solchen "Scheiß" kaufen. Angebot und Nachfrage: frage lieber nicht!

Vor dem Zigarettenautomat ist es meistens ruhig, denn seit man nur noch mit einer Bankomatkarte Zigaretten kaufen kann, ist das den Touristen zu kompliziert geworden. Abgesehen davon sind viele Touristen gar keine Raucher mehr und die, die noch welche sind, zünden sich in den Lokalen immer ganz scheu die Zigaretten an, etwa so, wie ein Griechenlandreisender zum ersten Mal einen Teller auf den Boden wirft, weil man sich in einem Bereich befindet, wo das Verbotene auf einmal geboten oder, wenn es schon nicht erwartet, so doch geduldet wird. Die Pinzgauer rauchen noch fleißig - ich glaube, das kann man ganz allgemein sagen. Österreichische Jugendliche rauchen sowieso viel, und dass gerade bei uns die besseren und weniger rauchenden Jugendlichen wären, das hält man einfach mal so für unwahrscheinlich.
Dass diese Zigaretten auch immer nach Orten benannt sein müssen, wenn ihnen nichts Besseres einfällt, denke ich mir, als ich eine Schachtel Parisienne wähle, für die man, lässt man sie in Paris am Tisch offen liegen, neugierig angeschaut wird. Memphis-Zigaretten in Memphis zu rauchen wäre auch sowas. Nur, dass man sich mit Memphis prinzipiell schämt, egal wo man ist. Memphis hat etwas Prolliges und das goldene Papier innen erinnert an 70er-Jahre, Schnauzbart, Goldring und sehr behaarte Unterarme. Will man nicht rauchen. Kratzt auch im Hals, aber erst am nächsten Tag.

Im Lokal ist dann eher wenig los, man hört nur vor der Türe in den Gassen die Holländer schreien. Es kommt der "echte Pinzgauer" herein - so nennt er sich selbst. Ich nenne ihn den Lodenbeidl und weiß nicht warum. Er ist gern "trachtig" gekleidet, wie er sagt, aber das eigentlich nur zu besonderen Anlässen wie dem Mittwochsfest, dem Seefest oder irgendeinem anderen Fest, dessen genauer Anlass eigentlich eh jedem wurscht ist. Der Lodenbeidl redet immer vom Pinzgau und wie es ist, ein "echter Pinzgauer" zu sein. Etwas anderes redet er nie. Er sieht auch aus wie ein Pinzgauer, auch wenn er nicht trachtig gekleidet ist, das muss man ihm lassen. Er hat eine Pinzgauer Physiognomie, aber das sagt man ihm besser nicht. Erstens müsste man es anders formulieren, sonst fühlte er sich angegriffen und zweitens weiß man nicht, ob ihm das Recht ist, denn so naiv zu sein und zu glauben, einem "echten Pinzgauer" wäre es quasi eine Ehre, sagte man ihm, er habe eine Pinzgauer Physiognomie, soweit will man dann doch nicht gehen - weil es riskant ist.

Ich sage es ihm trotzdem. Und zwar genau nachdem er mir mitteilt, dass er ein echter Pinzgauer sei. "I bin da Peda und i bin a richtiger Pinzgaua", sagt er. Er legt eine leichte Betonung auf das Wort "richtiger" und sieht mich dabei mit etwas zusammengekniffenen Augen an. Ich fühle mich sofort als unechter Pinzgauer und sage "Mhm... Schaust owa a so aus!". Jetzt kneift er die Augen noch mehr zusammen und stößt ein scharfes "Wieso?" aus. "Naja, du schaust aus, als wärst du ein erdiger Typ.", sage ich. Das war nicht schwer. Der Lodenbeidl grinst zuerst, lacht dann kurz auf und sagt "Jojo... mei. A echter Pinzgauer hoit!". Ich will nicht mehr mit ihm reden, doch da sagt der Lodenbeidl schon "Woher bist oft du?!". Da ist er, der alles entscheidende, der entsetzliche Satz. Hätte Goethe im Pinzgau gelebt, dann hätte Faust eine ganz andere Gretchenfrage gestellt bekommen.
Das „Gespräch“ ist jetzt in einer kritischen Phase, denn einerseits fühle ich mich, als hätte ich einen Trumpf im Ärmel, doch andererseits weiß man nie, welchen Effekt die Antwort haben wird. Deswegen entscheide ich mich dafür, während ich "Schmitten" sage, das Kinn anzuheben und den Kopf noch etwas bedeutungsschwer nachschaukeln zu lassen. Das macht die Pause zwischen meiner Antwort und der Reaktion des Lodenbeidls lange. Gerade, als ich einen Schluck von meinem Bier nehmen will, wie zur Bestätigung des gerade Gesagten, sagt der Lodenbeidl, der mich die ganze Zeit fixiert hat, auf einmal: "Geh!?... Aha...", und dann trinkt auch er von seinem Bier. Geschafft. Schmitten kennt er, aber nicht zu genau als dass er fragen könnte, wie ich heiße und so weiter. "Wüde Hundt, die Schmittinga." setzt er nach. Ich sage nur "Jaja, haha!" und für den Lachnachsatz schäme ich mich gleich.

Irgendwas passt ihm nicht, dem Lodenbeidl, das merke ich ganz genau. Ich sehe wahrscheinlich nicht aus wie ein Pinzgauer. Mein im Gespräch mit ihm absichtlich verstärkter Dialekt scheint zwar seine Wirkung nicht ganz verfehlt zu haben, aber anscheinend passt der auch nicht so ganz zu mir, deswegen sagt der Lodenbeidl "Ausschaun tuast owa du wiara Stodinga!". Jetzt nicht nervös werden! Leider neige ich in solchen Situationen zur Spitzfindigkeit und sage: "Najo, Zell is ja auch eine Stadt...", diesmal traue ich mich gar nicht zu lachen und das ist auch gut so, denn jetzt scheint der Lodenbeidl böse zu werden. Er schüttelt heftig den Kopf und sagt "Jo, na geh..." und es klingt irgendwie wütend und beleidigt und man weiß nicht, ob er einem wie ein Kind vorkommt oder wie ein böser, betrunkener Mann oder beides. "Wiara Soizbuaga schaust du ma her!" ... Jetzt hat er mich. Jetzt hat er mich doppelt, nein dreifach.
Ich könnte mich jetzt im Stillen über die Formulierung "jemand schaut jemandem wie etwas her" aufregen, die ich immer schon mehr dumm als charmant fand. Das ist aber jetzt unmöglich, da ich ja selber die ganze Zeit versuche, dem Pinzgauer Dialekt möglichst treu zu bleiben. Die zweite Möglichkeit wäre die, zu behaupten, man wäre ja eh ein Salzburger, um nach einigem Hin und Her dann dem Lodenbeidl zu erklären, dass man das Bundesland gemeint hat und nicht die Stadt. Das ist aber eine selbst dem Lodenbeidl gegenüber recht freche und eigentlich hundsgemeine Geschichte, die nur Zwietracht sät. Ich entscheide mich für Möglichkeit Nummer drei, die ohnehin einen empfindlichen Nerv trifft, denn ich mag die Stadt Salzburg schon nicht und für einen Salzburger gehalten zu werden, empfinde ich als schwere Beleidigung. Jetzt aber Vorsicht, nicht zu emotional werden, sonst ergibt sich zum Schluss noch eine schön ausgebettete, mit vielen Beleidigungen gegen die Stadt Salzburg geschmückte und wohlig gemachte Gesprächsbasis. Das Böse kommt auf leisen Sohlen, erst recht wenn es um Salzburg geht!

Ich also - leicht entrüstet, aber nicht zu entrüstet, mit einer ordentlichen Prise Verwunderung, die, bevor ihre Wirkung verfliegt, sich in einer beleidigten Miene zu setzen sucht: "Wos!? Naaa!" Es braucht nicht viele Worte, um in dieser Gegend Kommunikation zu führen, aber man benötigt schon ein Geschick in Sachen Intonation, Wortwahl und vor allem mimischer Gesprächsführung. Ein Zucken im Mundwinkel, während man ein freundlich-beleidigtes Gesicht zu machen versucht, und das Ganze gleitet entweder in etwas Feindseliges oder etwas Harmloses ab. Beides kann ungute Folgen haben. Mir gelingt mein Wos?-Na!-Gesicht ganz gut und der Lodenbeidl lacht zufrieden - offenbar gefällt ihm meine leichte Entrüstung. Seine Skepsis aber weicht nicht, ich bin ihm immer noch nicht urig genug. Sein Gesicht verlangt nach Erklärung und ich muss jetzt ganz schnell von mir ablenken, hin zu den fürchterlichen Salzburgern und ihm irgendwie zu Verstehen geben, dass ich mit denen überhaupt nichts am Hut habe und das auch gar nicht haben will.

Der Lodenbeidl hält ja viel auf Äußerlichkeiten. Deswegen hat er eine bäuerliche Frisur, einen missglückten Ziegenbartversuch im Gesicht, eine recht geschundene Haut und seine Kleidung ist von proletarischer Eleganz. Viel Pinzgauerisches hat er heute nicht an, seine Bodenständigkeit signalisiert er durch ein Holzhackerhemd, das er unter einem hellbraunen Pullover trägt, dazu Jeans und Schuhe, die ich noch nie zuvor gesehen habe - nicht, weil sie besonders extravagant wären, sondern eher ihrer wenig galanten Unscheinbarkeit wegen. Ich hingegen habe eine "gemachte Frisur", wie man sagt, hab ein einfärbiges Hemd und graue Jeans an, sehe also "sauber" aus und darüber hinaus habe ich lange, dünne Finger - auf die hat der Lodenbeidl schon missmutig geschielt. Alles in allem bin ich also eine optische Provokation für ihn und genau da muss ich ihn packen, das ist das, was ihm auffällt, ihn stört, ihn misstrauisch macht. "Die Salzburger schaun ja ganz anders aus.", sage ich. Jetzt habe ich ungefähr drei Sekunden Zeit zu überlegen, was ich darauf folgen lasse. Der Lodenbeidl schaut verwundert, ich merke, dass er sich irgendwie zu freuen scheint, dass ich auf seinen Zug aufgesprungen bin, aber natürlich erwartet er jetzt eine Argumentation, dass es ihm die seltsamen Schuhe auszieht - da dürfen jetzt keine Fragen offen bleiben. "Wia leicht?", fragt der Lodenbeidl und verschränkt die Arme vor der Brust. Er hat sich jetzt im Gespräch eingehakt, da gibt es kein Aufs-Klo-Gehen, kein Am-Bier-Nippen oder Zigarretten-Anzünden, das mich aus dieser Zwickmühle herausbringt. Mir raucht der Kopf, ich sage mir selber, dass ich nie wieder auf solche Gespräche einsteige und wie das überhaupt passiert sei, wie schnell das gegangen ist, das wundert mich, keine 4 Sätze gewechselt und schon ist man in so einer Situation, wo ein Pinzgauer mit verschränkten Armen vor einem steht und auf eine Erklärung wartet, die man vorgegeben hat zu haben, die man sich aber jetzt doch aus den Studentenfingern saugen muss. Ich schaue kurz auf meine Hände, ja nicht einmal Risse haben die von der Kälte, oft sind sie im Winter wenigstens ein bisschen trocken und schauen nicht gar so gepflegt aus. Ich verschränke auch schnell die Arme, um die Finger nicht mehr sehen zu müssen und hol mir das Bild eines Salzburgers vor das innere Auge, von einem richtig unangenehmen Salzburger, den letzten, der mich richtig unangenehm aufgefallen ist... Ja, da ist er schon.

"Naja, die ziehen sich ja meistens so an, als wären sie recht kernig", sage ich, während ich daran denke, wie der letzte unsympathische Salzburger, den ich getroffen habe und bei dem ich mir gedacht habe "Wah, ein richtiger Salzburger ist das", wie der mich also gefragt hat, woher ich komm und ich habe gesagt "Aus Zell am See" und dann hat er so komisch geschaut. Der hatte ein rot-weiß-kariertes Hemd an. So eines, das sich einer zum Fasching anzieht, wenn er einen Bauern darstellen will oder einen Tiroler Schilehrer im Sommer und so weiter. Man ist ja selber nie vor Vorurteilen sicher, denke ich mir, während der Lodenbeidl nachdenkt, was ich mit meinem Satz gemeint habe. Aber gut, in dieser Situation helfen mir die Vorurteile, die der Salzburger gehabt hat, als er sich das Hemd gekauft hat, weil er dachte "Damit sehe ich kernig aus". Er war aber überhaupt nicht kernig, sondern eher glitschig oder pampig. Oben eher glitschig und dann so ab der Nase oder ab dem Mund pampig. Das denk ich mir, während mich der Lodenbeidl immer noch anschaut - er denkt gerade nach. Und was hatte der Salzburger für eine Hose an? War das nicht so eine Pseudo-Lederhose? So eine, die aussieht, als wäre sie eine echte Lederne, die aber einen höheren Tragekomfort hat, weils doch kein echtes Leder ist, aber sicher fast genausoviel kostet, weil der das in einem Laden in der Getreidegasse oder was weiß ich wo gekauft hat. So Läden, wo Country-Style-Sachen verkauft werden. Wo reiche Stadtmenschen so tun können, als würden sie in Wahrheit am Land wohnen, ein bissl urig, aber schon modern. Wo man einfach besser aussieht, wenn man im Land Rover drinsitzt.

"Mhm.", sagt der Lodenbeidl. "Jojo, do host scho recht", setzt er nach. Und ich bin erleichtert und auch etwas verwundert. Hat er jetzt wirklich verstanden, was ich meine? Er mustert mich und als wäre es Gedankenübertragung, scheint er mich mit meinem inneren Bild des Salzburgers verglichen zu haben - und der Vergleich ist gut ausgegangen für mich. "Wiara Hotelier schaust du aus", sagt er drauf und spricht „Hotelier“ so aus, dass es sich auf „Fakir“ reimen würde. Damit kann ich leben, denn damit ist jetzt auch bewiesen, dass ich wie ein Zeller aussehe, denn Hoteliers gibt es hier genug. Ich frage mich noch, ob ich mit ihm darüber diskutieren soll, ob man "Hotlier" oder "Hoteljee" sagen soll oder darf, aber dann fürchte ich mich davor, eventuell noch die Frage präsentiert zu bekommen, die ich ohnehin als nächste erwartet hätte: "Wos tuast oft du?"
Doch da bis zur nächsten Frage im Pinzgau in etwa die Zeit eines halben kleinen Bieres zu vergehen hat - außer es ist großes Misstrauen im Spiel, und dieses habe ich ja jetzt auf ein für den Lodenbeidl erträgliches Maß reduziert - entkomme ich diesem Fallstrick, denn gerade geht die Tür auf und herein kommt Uwe, der ganz und gar unpinzgauerische Koch eines relativ ungustiösen Lokals in Zell am See. Uwe, ein Deutscher, riecht immer sehr nach Fett und nicht nur deswegen unterhalten sich die Leute nur ungern mit ihm. Der Lodenbeidl aber, der unterhält sich liebend gern mit dem Uwe, weil dem kann er erzählen, was richtig Pinzgauerisch ist und was nicht.
Ich denke mir gerade, ob es das Wort "faschistofetischistisch" geben sollte, wer daran Gefallen fände und wie es aussehe, wenn es stenographiert würde, da höre ich den Lodenbeidl schon zu Uwe sagen "I bin a richtiga Pinzgaua!" und Uwe sagt "Ach ne?", bestellt ein Bier und ich proste ihm zu, denn dem Uwe möchte ich nicht die Hand geben. Das hat nichts mit Unhöflichkeit zu tun, denn wenn einer so unhöflich ist und sich nach einem langen Tag in der Küche nicht wäscht und stinkend in ein Lokal geht, dann bin ich auch so unhöflich und gebe ihm nicht die Hand. Nur wegen seiner Faulheit will ich keinen Fettgestank an den Fingern haben. Und da sehe ich, wie der Lodenbeidl dem Uwe die Hand gibt und sie vor lauter Rausch gar nicht mehr auslässt. Die klobigen Hände vom Lodenbeidl saugen sich richtig an mit dem Fett an den Händen vom Uwe, so kommt es mir vor und ich frage mich, ob das gut für den Feuchtigkeitshaushalt der Haut ist, wenn die Hände in Fett getränkt werden, kann mir aber irgendwie nicht vorstellen, dass etwas intuitiv Grauenhaftes irgendwie gut sein soll. Uwe packt seine Zigarretten aus, er raucht York, und ich frage mich, ob die Leute wissen, dass selbst die Marlboro-Zigarretten nach einer Londoner Straße benannt sind und was Reisen mit Rauchen zu tun haben könnte. "Morgen gehe ich Schifahren", denke ich, trinke aus, zahle und geh.

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