Donnerstag, 28. April 2011

Das zweite Tor

"Hast du das gesehen, wie der FC Messi die Madrilenen weggeputzt hat?" Die roten Wangen vom Franz sind noch ein bisschen röter als sonst, er grinst über beide Ohren. Das ist einer jener Momente, in denen der Franz aufrichtig glücklich ist. Ich aber stehe nur verdattert im Eingang des Lokals und kann nicht glauben, dass ich in den zehn Minuten, die ich vom Cafè Sonnenschein hierher brauche, beide Tore versäumt habe. "Nein, nix hab ich gesehen!", sag ich dem Franz, der aber schon wieder auf das kleine, flimmernde Fernsehgerät aus den frühen 90ern schaut, das er auf dem ungenützten, noch giftiger flimmernden Spielautomaten (geschätztes Baujahr: 1985) platziert hat. Ich weiß jetzt, dass mein Bier, das ich noch nicht einmal bestellt habe, noch länger dauern wird als sonst.

Schon ruft der Franz begeistert: "Der macht heute noch den lupenreinen Hattrick!", und er meint natürlich "seinen" Lionel Messi, wie er immer wieder sagt. "Hast du das zweite Tor gesehen!?", ruft er in Richtung Fernseher, meint aber mich. "Nein!", sage ich wieder, "nix habe ich gesehen, ich war ja grad auf dem Weg und da haben die alle beiden Tore geschossen." Der Franz dreht sich um und schaut mich entgeistert an. Seine Teddybäraugen sind ein bisschen feucht, ich weiß nicht, ob es am Rauch liegt oder am ehrlichen Entzücken über den argentinischen Fußballer. Da fällt mir auf, dass niemand raucht, dass außer mir überhaupt nur einer im Lokal sitzt, und der sitzt noch ziemlich gerade auf seinem Hocker, scheint also nicht betrunken zu sein: Ein schlechter Abend für den Franz, möchte man meinen. Aber das Glänzen seiner feuchten Augen, das er sonst nur hat, wenn jemand eine Lokalrunde bestellt, verrät, dass heute das leere Lokal nicht so wichtig ist. "Das erinnert an einen Maradona!", ruft er mir ins Gesicht. Der zweite Gast kichert, er hat den Satz heute bestimmt nicht zum ersten Mal gehört.

Der Franz aber, Wirt vom alten Schlag, erkennt sofort, dass ich etwas trinken will und setzt diesen seltsamen Blick auf, eine Mischung aus Mitleid und Verständnis, und fragt ganz ruhig: "Willst ein Kleines?" "Ja, bitte", antworte ich ihm und weiß, dass ich warten muss bis es einen Abstoß gibt oder ein harmloses Foul, jedenfalls irgendetwas, das dem Franz erlaubt, kurz aufzustehen und das Bier zu machen. "Der Messi ist der Größte - obwohl er so klein ist!", gluckst der Franz als Real Madrid gerade in Ballbesitz ist und keinerlei Anstalten macht, einen gefährlichen Angriff zu starten. Da macht der Franz mein Bier, zumindest das erste Drittel. Denn der Franz ist einer, der macht das Bier für gewöhnlich langsam, dafür hat es dann die schönste Schaumkrone von Graz. Wenn man ein schnelles Bier will, geht das auch, das muss man aber extra erwähnen. Oft, wenn man ein "Schnelles" bestellt, wiederholt der Franz die Bestellung, sagt aber "ein Rasches, bittesehr!", und man weiß, dass man wirklich lieber "rasch" als "schnell" sagen sollte, weil sich die Wörter im Lokal in den letzten 30 Jahren so wenig wie die Einrichtung verändert haben.

Das Spiel ist bald zu Ende, Messi hat keinen Hattrick mehr gemacht, auf dem Spielfeld gibt's noch Rangeleien, aber der Franz redet nur vom zweiten Tor. "Das erste war aber auch schön, wie er den so geschickt reingelenkt hat, da hatte der Verteidiger keine Chance", sagt der andere Gast. "Jaja", sagt der Franz mit seiner ruhigen Stimme, "auch schön, auch schön..." Ich merke, dass der Franz lieber über das zweite Tor reden würde, also frage ich: "Und das zweite Tor, das war echt so schön?" Da ist der Franz wieder hellwach: "Wie einst Maradona, ich sag es dir! Wie einst Maradona! Wie das Solo gegen Brasilien damals." "Gegen England!", sagt der andere. "Nein, gegen Brasilien!" - "Nein, das war gegen England!" - "Gegen England war das?", fragt der Franz mit seinem seltsamen kritischen Blick, bei dem er dich mit zusammengekniffenen Augen anschaut, während er die Mundwinkel nach unten zieht - eine mimische Kombination, die ich bei keinem Menschen zuvor gesehen habe und die man nur zusammenbringt, wenn man sein Gegenüber zum Narren halten will. "Gegen England oder gegen Brasilien.", sagt der Franz vor sich hin. Ich frage mich, ob nicht beides möglich wäre, da Maradona bekanntermaßen mehr als ein Solo in seiner Karriere gemacht hat. Freilich, da gab es dieses eine Solo, das weltberühmte, aber das wüsste ich jetzt auch nicht, wann und wo und gegen wen das war. Mir kommt die Einsicht, dass Maradona nur zwei Tore geschossen hat. Das eine war mit der Hand und das andere war das Solo. Und dann denke ich mir, dass das auch bitter ist für den größten Fußballer aller Zeiten, wenn von dir nur zwei Tore übrig bleiben, von denen eines irregulär war. Obwohl das natürlich Blödsinn ist, weil Maradona viele geniale Tore gemacht hat. Nur waren die meisten davon ohnehin Soli, kommt mir halt so vor, wieso sich also auf eines festlegen?

Herbert Prohaska analysiert gekonnt die zweite Hälfte, sagt, dass Barcelona aufgrund der zwei Tore die torgefährlichere Mannschaft war und ich muss lachen, werde aber gleich wieder ernst, weil ich einsehen muss, dass er da natürlich auf eine sehr banale Weise Recht hat. Dann zeigen sie die beiden Tore. Das erste wird vom zweiten Gast heftig beklatscht, er sagt nur "Super! Super!" und "Siehst du, wie der das geschickt macht? Da kann der Verteidiger gar nicht... da hat der keine Chance, da kommt er nicht hin..." "Ja! Aber jetzt!", unterbricht ihn der Franz, "Jetzt kommt das zweite Tor!" Er dreht sich zu mir und sagt: "Schau dir das an! Wie der die ganze Abwehr ausspielt!" "Wie der Maradona immer, gell?", sage ich. "Ja, wie der Maradona gegen Brasilien!" "England!", schreit der andere. Und dann kommt das zweite Tor. Und es ist wirklich schön.

Wie das aber immer so ist mit den Erwartungen, gefällt mir das zweite Tor dann doch nicht so. Ich habe nämlich kurz nachdem ich in das Lokal gekommen bin, eine SMS von einem Freund erhalten, in der er das zweite Tor überschwänglich lobt. Dass einer so etwas in so einem Spiel und auf diesem Niveau zusammenbrächte sei eine Erleuchtung oder so ähnlich. Da habe ich mich natürlich wieder geärgert, weil ich zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich gerade in der Sporgasse beim Hergehen ob der kühlen Abendtemperatur gefroren habe. (Jetzt habe ich noch einmal nachgeschaut. Er hat geschrieben: Gegen die Weltbesten so einen Knödel ins Tor reinschieben ist ja wohl ein Witz!) Ich habe ihm geantwortet, dass ich gerade auf dem Weg in ein Lokal war und ich es deswegen versäumt habe. Er schreibt zurück, ich solle es mir unbedingt anschauen, egal wie. Jetzt habe ich es also gesehen, das zweite Tor, und es gefällt mir schon ganz gut. Aber eben nicht soo gut. Hätte ich es live mitbekommen, hätte ich vermutlich gesagt, dass wir gerade das Tor des Jahres gesehen haben. Aber jetzt waren meine Erwartungen natürlich schon sehr hoch und jetzt ist das Tor halt "nur" genial. Ich bin enttäuscht und im selben Moment denke ich mir, dass es absurd ist, von so einem Tor enttäuscht zu sein, weil man sich noch mehr erwartet hatte. Also schäme ich mich ein bisschen.

Inzwischen ist der Franz aber, nachdem er mir das fertige Bier mit anständiger Schaumkrone hingestellt hat, in den Keller gegangen. Jedes Mal, wenn er da hinuntergeht, hoffe ich im Stillen, er möge auch wieder zurückkehren. In seinem Alter die engen, dunklen Kellerstiegen... also ich hab da immer ein bisschen Angst um den Franz. Er kommt aber gleich wieder herauf und hat ein gerahmtes Bild in der Hand. Es ist eine Karikatur, die den Franz zeigt, wie er in der Franziskanergasse steht. Neben ihm steht Bode Miller und auf seinem Arm sitzt Lionel Messi. Die Karikatur ist wirklich gut, ein bekannter Karikaturist hat dem Franz das Bild einmal zum Geburtstag geschenkt. Stolz zeigt der Franz die Karikatur in die kleine Runde. "Jetzt ist es Zeit, dass du das einmal aufhängst!", sage ich zum Franz. Der Franz grinst und ich sage noch, das Bild kommentierend: "Der größte Wirt von Graz und der größte Fußballer der Welt!", und grinse den Franz an. "Obwohl er eigentlich der kleinste ist!", lacht der Franz.

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