Donnerstag, 18. September 2014

Das Point - ein Abschied

Es gab da ein Lokal in Zell, das hätte es eigentlich gar nicht geben dürfen. Ein Lokal wie eine Überraschung, eine klitzekleine Offenbarung, ein alltägliches Kleinod. Dementsprechend bescheiden nannte man es auch das "Point". Einfach ein Punkt - nicht mehr, aber gottlob auch nicht weniger!

In der Schule hatte ich einen fleißigen Mathematik-Professor. Er war für die Mittelschule vielleicht ein wenig überqualifiziert; jedenfalls versuchte er uns nicht bloß Mathematik beizubringen, sondern Denken im Allgemeinen. Das ist schwierig für Kinder. Denken ist nämlich überhaupt das Schwierigste, was ein Mensch lernen kann. Und doch tut es jeder tagtäglich - und oft auch allzu selbstverständlich.
Dieser Professor jedenfalls führte uns in die hohe Kunst der Geometrie ein, indem er mit uns eine Schulstunde lang darüber diskutierte, was denn eigentlich ein Punkt sei. Nach vielem hin und her durften wir uns einen der wichtigsten Merksätze unserer Schulkarriere in das Schulübungsheft schreiben. Freilich war uns das damals überhaupt nicht bewusst und wir hielten den Satz für hochgradig lächerlich. Er lautete: "Ein Punkt ist das, was sich jeder halbwegs intelligente Schüler darunter vorstellt."

So gilt auch für dieses Lokal, das sich nach dem abstrakten Begriff des Punkts benannt hat, ähnliches: Das Point war all das, was sich seine Gäste darunter vorstellten. Daher kam es, dass es zu einem Lokal wurde, in dem man an einem Abend die gescheitesten Leute traf, und an einem anderen Abend die wahnsinnigsten. Und oft genug war man einfach nicht in der Lage, den Unterschied zwischen den beiden festzustellen. So war das Point ein Kulminationspunkt von Genie und Wahnsinn, von Herzlichkeit und Eigensinn, von Gastlichkeit und saurer Thekenfeindschaft. Einfach hatte man es in dem Lokal weder als Gast noch als Gastgeber- aber angenehm, das war es doch immer!

Es war so angenehm, dass sogar der größte Menschenfeind, den das Zeller Nachtleben zu bieten hatte, regelmäßig dorthin flüchtete. Der Puffer Willi schimpfte dort über die sogenannte Partygesellschaft in den Zeller Mainstream-Lokalen, wünschte sich allerlei wilde Musik oder ging ganz einfach nur aufs Klo. Ja, das Point war auch ein Fluchtpunkt. Nicht selten fand ich mich dort ein, um dem Trubel, der sonstwo herrschte, entfliehen zu können. In Ruhe ein Bierchen trinken, tatsächlich mal mit Menschen reden, und sich nicht bloß unterhalten, wozu es ja in vielen Fällen gar keiner Worte bedurfte.

Es war das Point überhaupt ein Lokal der Worte und nicht der Wörter. Selbstverständlich haben wir auch im Point viel Blödsinn geredet. Aber nirgendwo sonst musste man so auf seine Worte achten. Da war es zum Beispiel nicht egal, ob man Respekt oder Ehrfurcht vor etwas hatte; nichts konnte einfach so dahin gesagt werden. Da mussten erst einmal die Begriffe geklärt werden, bevor man über irgendetwas überhaupt eine Aussage machen konnte. Das schöne daran war, dass untypischerweise gar nicht immer ich an solchen Diskussionen "Schuld" war, sondern sich das ganz natürlich ergab.

Bierernst ging es dabei nie zu. Das war überhaupt das Wichtigste am Point: Jeder wurde ernst genommen - aber nicht um jeden Preis. Über allem hing der Zweifel im Gewand des Schmähs, und doch regierte nie Zynismus, sondern immer das freundschaftliche Augenzwinkern. So konnte man an nur einem Abend einmal darüber diskutieren, ob sich die Kunst nun nach dem Leben zu richten hatte, oder es nicht vielmehr umgekehrt war; und nur eine Stunde später führte man eine leidenschaftliche Diskussion darüber, ob Daniel Craig überhaupt ein legitimer Bond-Darsteller sein könne. So kurios das jetzt für manche klingen mag: Man fühlte sich dabei nicht auch nur eine Sekunde lächerlich.

Nein, wir hatten es hier nicht mit einem elitären Separee für Schöngeister zu tun. Ich möchte behaupten: Ganz im Gegenteil! Aber nur weil man in einem Lokal steht und ein Bier in der Hand hält, muss ja der Geist nicht ruhen. Er kann - aber er muss eben nicht! Und nur, weil er nicht ruht, muss das wiederum nicht heißen, dass es kompliziert und ungemütlich zu werden hat. Es hat schon immer wieder jemand zur rechten Zeit eine "zwickspähe" Bemerkung gemacht, die uns nicht vergessen ließ, dass wir hier eigentlich in einer Bar sind und ruhig auch einmal ein bisschen deppert sein können.

Weil es wirklich anders war, als alles andere: Deswegen sind wir hier reingekommen. Dass es nun nicht mehr da ist, ist schade. Aber wie sehr es uns abgeht, das werden wir erst in ein paar Monaten merken, wenn irgendetwas in uns sich rührt und uns Lust macht auf einen Abend im Point. Auf einen Abend, an dem man nicht weiß, was passieren wird oder ob überhaupt etwas passieren wird. Auf einen Abend, von dem man sich nichts erwartet, den man hinterher in keiner Weise bereut und von dem man froh ist, dass es ihn gegeben hat.

Danke Jana und danke Anselm für die letzten Jahre. Danke, dass ihr euer Lokal für uns geöffnet habt, auf dass wir hinein gingen und uns erfreuten. Danke für die persönliche Betreuung, die uns nie das Gefühl gegeben hat, dass wir hier "nur" zu Gast waren. Danke, dass wir von einander als Freunde denken dürfen. Denn wir vermissen vielleicht dieses Lokal, das es eigentlich nie geben hätte sollen, weil Zell oft kein Platz für solche liebenswürdigen Absonderlichkeiten zu sein scheint. Aber ihr bleibt uns ja hoffentlich erhalten!

Unter das Lokal allerdings müssen wir dieses Wochenende den allerletzten Punkt setzen

oder das, was sich jeder halbwegs intelligente Mensch darunter vorstellt

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