Eine junge Frau steht vor der
Weikhard-Uhr und fotografiert selbige mit ihrem iPhone. Es ist vier
nach zwölf und sie ist gerade erst vor zwei Minuten gekommen. Sie
wischt ein wenig aggressiv auf dem Display ihres Telefons herum. Ja,
sie schickt das Foto von der Uhr bestimmt an denjenigen, der sich
hier erlaubt, vier Minuten zu spät zu sein. Was für eine Geste!
Befände ich mich auf dem Weg zu einer Verabredung und bekäme ich
ein solches Foto, ich würde auf der Stelle umkehren. Ich stelle mir
vor, wie ich durch die Straßen eilen, wie ich die Vibration des
Telefons spüren und sofort einen schuldbewussten Blick darauf werfen
würde, eine Klage-SMS erwartend und ohnehin schon ein schlechtes
Gewissen ob meiner Verspätung habend, mir Ausreden einfallen lassend
oder darüber grübelnd, ob es nicht das Beste wäre, einfach die
Wahrheit zu sagen; und wie ich dann statt einer Textnachricht eine
solche perfide, ja eigentlich hundsgemeine Bild-Nachricht erblicken
würde, die mich nicht nur meiner Verspätung wegen mahnt, sondern
die mich ganz grundsätzlich zur Pünktlichkeit erziehen will. Ich
würde auf der Stelle stehen bleiben, verdutzt auf den Bildschirm
starren, vor mich hin fluchen und schließlich kehrt machen. Keine
Antwort würde ich schreiben, nie wieder würde ich diese Person
anrufen, die mir ein Foto von der Weikhard-Uhr schickt, auf der es
vier nach zwölf ist, wo doch jeder weiß, dass die Weikhard-Uhr
immer ein bisschen vor geht, es also höchsten zwei Minuten nach
zwölf sein kann. Ärgern würde ich mich über die Frechheit einer
solchen Bild-Nachricht, ärgern darüber, dass jemand einen solchen
Aufwand betreibt, der ja in Zeiten wie diesen kein großer
technischer mehr ist, aber ein gedanklicher Aufwand, denn hinter
solch einer Aktion steckt ja eine Idee, eine gewisse Kreativität,
das muss man zugeben, ganz unkreativ ist diese Dame ja nicht,
immerhin hätte sie auch ein erbostes Telefonat führen oder eine
empörte Textnachricht schicken können. Stattdessen schickt sie das
Foto von der Weikhard-Uhr wie ein allgemein gültiges Beweisstück an
den armen Zuspätkommenden, vermutlich kommentarlos, ganz ohne
Erklärung, ohne ein zärtliches „Wo bist du?“ ohne ein
humorvolles „Und da heißt es immer, ich komme zu spät“ und
sicherlich ohne irgendwelche Smileys, die dem Bild von der
Weikhard-Uhr etwas von seiner vorwurfsvollen, bilanzierenden Wirkung
nehmen könnten. Eine Kreativität der Grausamkeit würde ich das
nennen, wenn ich, bereits wieder auf dem Heimweg, darüber
nachdächte, eine gewisse Bewunderung für das kreative Potenzial der
Dame nicht ganz verbergen könnend.
Die junge Frau steht immer noch da und
sie wird immer nervöser. Ihr Hin-und-her-Getripple und das damit
einhergehende unaufhörliche Klappern ihrer unverschämt hohen
Absätze haben die Lästigkeit eines Spechts. Ja, die Höhe der
Absätze ist genauso unverschämt wie das Foto von der Weikhard-Uhr,
denke ich mir. Auf der ist es jetzt fast sechs nach zwölf. Die
Person ist immer noch nicht da und sie wird, da bin ich mir ganz
sicher, auch nicht mehr kommen, denn bestimmt hat sie auf dem Weg
kehrt gemacht, als sie die SMS gesehen hat. Die junge Frau ist schon
so nervös, dass ich zu glauben verleitet bin, ihr Verhalten habe gar
nichts mehr mit der Verspätung zu tun, sondern viel eher mit
Harndrang. Da macht sie auch schon kehrt und klappert von dannen. Sie
ist gegangen, ohne noch einen Blick auf die Weikhard-Uhr zu werfen.
Sie klappert in Richtung Sackstraße, aufgebracht und beleidigt,
genauso wie die Person, mit der sie verabredet war jetzt wohl
aufgebracht und beleidigt wieder auf dem Heimweg ist.
Um acht nach zwölf schlurft ein
gelangweilt aussehender junger Mann heran. Er bleibt vor der
Weikhard-Uhr stehen und blickt sich suchend um. Ein wenig dümmlich
schaut er hinauf, vergleicht die Zeit mit seiner Armbanduhr und
beschließt zu warten. Dazu steckt er die Hände in die Hosentaschen
und lehnt sich an ein Schaufenster. Dort steht er ein paar Minuten,
bis er um vierzehn nach zwölf sein Mobiltelefon aus einer seiner
tiefen Jeanstaschen angelt. In seinem Gesicht spiegelt sich zuerst
Überraschung und dann Ratlosigkeit. Er tippt ein wenig auf dem
Display herum und hebt das Telefon schließlich an sein Ohr, während
er sich weiter suchend umblickt. Nichts. Es kommt kein Gespräch
zustande. Noch mehr Tippen, diesmal bestimmter, schneller. Dann lässt
er das Handy wieder in seine tiefe Hosentasche sinken und geht weg.
Es ist sechzehn nach zwölf.
Ich stehe schon eine gute Viertelstunde
vor dem Weikhard und warte auf eine junge Dame, mit der ich zum
Mittagessen verabredet bin. Aber er ist nicht zu spät, denn um
siebzehn nach zwölf (Weikhard-Zeit) kommt sie. Ich war, wie
meistens, fünfzehn Minuten zu früh. Gerne hätte ich ihr, wäre sie
zu spät gewesen, ein Foto von der Uhr geschickt, nur um zu sehen, ob
sie trotzdem gekommen wäre, oder ob sie umgedreht hätte. Gott sei
Dank ist mir das erspart geblieben.
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