Samstag, 20. August 2011

Viva das Künstliche! (Las Vegas I)


Der innereuropäische Urlauber sieht sich nach seiner Rückkehr aus dem Ausland mit vielerlei Fragen konfrontiert, deren erste und wichtigste immer jene nach dem Wetter ist. Wie das Wetter war, interessiert die Daheimgebliebenen anscheinend am brennendsten. Sei es, weil man dem Verreisten insgeheim Sturm und Hagel gewünscht hat aus Eifersucht, weil man selbst im Regen sitzen musste, oder sei es, weil man einfach nur an den klimatischen Verschiedenheiten zwischen der Heimat und der Urlaubsdestination interessiert ist. „Dort unten ist es schon Sommer!“, hört man etwa von einem zu Pfingsten in Italien Gewesenen. „Man glaubt es kaum, aber es hatte dort auch nur 18 Grad und das Wasser war kalt“, sagt zum Beispiel einer, der während eines gesamteuropäischen Kälteeinbruchs Ende Mai ein paar Tage in Kroatien verbracht hat. Wie auch immer das Wetter im Urlaub war, es ist – wie auch sonst im Alltag – ein beliebtes Gesprächsthema für Heimkömmlinge und interessierte Daheimbleiber.

In Amerika ist das ein bisschen anders. Hier scheint man immer schon zu wissen, wie das Wetter war. Das gilt vor allem für Reiseziele, die nur wenigen meteorologischen Schwankungen unterliegen – wie zum Beispiel Las Vegas. Niemand fragt nach dem Wetter in Las Vegas, weil es dort immer gleich ist: heiß und trocken. Aber auch, weil das Wetter in Vegas sowieso keine Rolle spielt, interessiert es niemanden so wirklich. Denn Las Vegas existiert im Prinzip nur im Drinnen. Das Draußen sind lauter Lichter, die auf das, was drinnen ist, aufmerksam machen wollen. Und dem Drinnen ist es egal, ob es draußen kalt ist oder nass, heiß und feucht oder staubig, oder was auch immer. Denn das Drinnen ist klimatisiert, manchmal auch odorisiert, in jedem Fall aber hermetisiert – was drinnen ist, bleibt drinnen, oder sagen wir es so: What happens in Vegas stays in Vegas.

Meine Vermutungen (nennen wir sie Vorurteile, das klingt weniger informiert) haben sich tatsächlich bestätigt – bis auf einen Punkt: das Künstliche. Als Österreicher sehe ich das Künstliche als das Gegenteil des Authentischen. Das Authentische, so verrät schon das Wort, hat etwas mit einem Tisch zu tun. Zum Beispiel mit einem Biertisch, auf den man anständig hauen kann, wenn man etwas Ehrliches zu sagen hat. Oder denken wir an einen Esstisch, auf dem man die Gaben beim Erntedankfest ausbreiten kann, die so authentisch und natürlich aus der Erde gewachsen sind, dass es einen beim Reinbeißen zwischen den Zähnen geradezu erdelt. In Las Vegas habe ich aber gelernt, dass authentisch auch anders geht, nämlich indem man das eigentlich Lächerliche derart ernst nimmt und es so gut macht, dass man als Rezipient, als Konsument oder einfach als Besucher oder Betrachter gar nicht mehr um den Unterschied zwischen künstlich und authentisch besorgt ist. Es ist einfach, wie es ist. (Schwachfugige Einfügung dazu: Hierbei handelt es sich um eine Abwandlung des parmenidischen Grundgedankens, welche sich auf die Essenz mehr denn auf die Existenz bezieht.)

Alles, was in Las Vegas an Attraktionen zu finden ist, ist in sich perfekt. Der große Vorteil, den Vegas dabei hat, ist, dass es sich selbst die Latte legen konnte. Viele Unternehmungen mögen genau an diesem Punkt scheitern, für Vegas scheint es geklappt zu haben. Die Hotels bieten alles, was das Herz begehrt, und zwar deswegen, weil sie genau all das bieten, was der Las-Vegas-Besucher erwartet: Unterhaltung. Sie beeindrucken von außen und innen mit aufwändiger Architektur, jeder Menge Möglichkeiten, sein Geld zu verlieren und jeder nur erdenklichen Form der Verköstigung aller Sinne. Als Österreicher, der sich schon gerne mal mit dem Bier-Wurscht-Spritzer-Angebot eines mittleren Volksfestes zufrieden gibt, ist man zunächst vielleicht überfordert. Dann aber realisiert man, dass man in Las Vegas eigentlich nichts zu tun braucht, außer von einem Hotel zum anderen zu gehen (oft muss man sich nicht einmal bewegen), somit also genügend Zeit hat, sich dem Geschehen eingehend zu widmen. Nichts läuft einem hier davon. Nicht nur, weil hier alles 24 Stunden verfügbar ist, sondern auch weil alles darauf ausgelegt ist, wiederholbar und reproduzierbar zu sein.

Nehmen wir als Beispiel das Venetian-Hotel, welches sich zur Aufgabe gemacht hat, Venedig zu simulieren. Freilich meint jeder, der schon einmal in Venedig war, dass ein solches Unterfangen nicht nur unmöglich, sondern geradezu blasphemisch sein muss. Die Amerikaner wären aber noch blöder, als wofür viele sie ohnehin schon halten, wenn sie nicht wüssten, dass man Venedig nicht als Hotel nachbauen kann. Also machen sie folgendes: Sie bauen ein besseres Venedig. Eines ohne (oder nur mit dem essentiellen) Schnickschnack, eines ohne Dreck und Gestank, ohne Tauben, ohne lächerlich hohe Preise für Getränke und ohne unverständliche Einheimische – ein Venedig, wie es sich ein durchschnittlicher Tourist wünscht. (Wir sprechen hier klarerweise nicht von einem italophilen Kunsthistoriker, der an jeder Stadt gerade „das Touristische“ so abstoßend findet, sondern von einem einfachen, unschuldigen Amerikaner in Europa!) Ein solches Venedig hat schöne Häuser, tolle Geschäfte zum Einkaufen, einen Kanal mit Gondeln und singenden Gondolieren, gutes Essen, hervorragendes Eis und ist sauber. Bekommt man das alles noch in ein Hotel hinein und simuliert beleuchtungstechnisch Tag und Nacht, hat man genau das, was das Venetian-Hotel bietet: Venice in a nutshell, die italienische Stadt quasi als Smartphone-App – leicht zu bedienen, übersichtlich, praktisch, unterhaltsam. Freilich nicht das echte Venedig, aber eine Einkaufsmeile mit Stil und Geschmack, nettem Ambiente und einem Charme, der einen kurz vergessen lässt, dass man sich eigentlich im bösen, unauthentischen Las Vegas befindet und gerade fürchterlich zum Narren gehalten wird.

So habe ich mich tatsächlich infizieren lassen, nannte das Venetian großartig und eines der am besten gelungenen Hotels der Stadt, bis ich auf die Straße trat und sah, wie Touristen auf einem Rollsteig über eine, das Venetian mit einem anderen Hotel verbindende, Rialtobrücke gezogen wurden. Da meldete sich der europäische Kulturelitarismus zurück und ich weigerte mich, die Rialtobrücke quasi fahrend zu überqueren. Eigensinnig und mit von den Rollsteig fahrenden Touristen abgewandten Gesicht schritt ich eilig über die Brücke, während ich meiner duldsamen Cousine erklärte, dass dies nun doch zu weit ginge und dass man ein bisschen Respekt auch noch haben müsse, wenn man schon versucht, eine Stadt wie Venedig nachzubauen und so weiter. Ich sagte ihr, sie würde das verstehen, wenn sie erst einmal Venedig sehe, welches ich ihr, so sei mir gerade klar geworden, bei ihrem nächsten Besuch mit Sicherheit zeigen werde. Zwar grinste sie verständnisvoll, was sie sich aber dachte, wusste ich nicht und will ich auch im Nachhinein nicht vermuten.

Warum man allerdings, wenn man in Las Vegas die Rialtobrücke überquert, vor Madame Tussauds' Wachsmuseum landet, versuche ich beim nächsten Mal zu erklären.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen