Montag, 19. Dezember 2011

Zeller Weisheit


"Friara hod ma gsogg, dasam Montoug Gnedltoug is. Heitzatougs kimmb ma fieh, da Montoug is ehanta Kähwapptoug!"

Dienstag, 13. Dezember 2011

Kopernikanische Wende

Auf der anderen Straßenseite wartet ein Mann mittleren Alters und zweifelhafter Natur an der Ampel. Er sieht aus wie jemand, der älter aussieht, als er ist. Vielleicht aber täusche ich mich und es handelt sich um einen Mann höheren Alters. Jedenfalls macht er auf mich einen etwas verwirrten Eindruck. Sein ungekämmtes, nach allen Richtungen hin abstehendes Haar trägt nicht wirklich dazu bei, ihm irgendeine Art von Vertrauen entgegen zu bringen; noch weniger tut dies sein etwas entrückter Blick. Darüber hinaus brabbelt er vor sich hin, spricht, als ob er jemanden rügen würde. Ich beruhige mich, indem ich mir einrede, der Mann spräche mit jemandem am Telefon und hat, wie so viele Zeitgenossen es haben, irgendwo ein Headset, ein Mikrofon an einem Kopfhörerkabel oder sonst irgendeine andere technische Vorrichtung, die ihm das Telefonieren erlaubt, ohne dass er dazu seine Hand benutzen müsste.

Vor ein paar Jahren schossen nämlich diese Freisprechvorrichtungen wie die Schwammerln aus dem Boden. Plötzlich sah man überall Menschen herumspazieren, die scheinbar mit sich selbst die angeregtesten Unterhaltungen führten. Es dauerte eine Weile, bis man sich an die irr vor sich hin sprechenden Leute gewöhnt hatte, doch irgendwann hielt man das für ganz normal. Radfahrer fuhren schimpfend an einem vorbei, in Supermärkten diskutierten einkaufende Damen die letzten Entwicklungen in ihren Freundeskreisen, während sie im Kühlregal die Ablaufdaten der angebotenen Produkte prüften und an Verkehrsampeln saßen einsame Autofahrer in ihren Fahrzeugen und diskutierten, teilweise wild gestikulierend, geräuschlos mit einem unsichtbaren Gegenüber.

Dabei kamen sie sich alle wahnsinnig pragmatisch vor und hatten plötzlich Hände frei, mit denen sie nichts anzufangen wussten. Wenn, dann drückten und wischten sie ohnehin auf ihren Mobiltelefonen herum - die Freisprecheinrichtung hatte also nur den Sinn, dass man während des Telefonierens das Handy für andere Zwecke verwenden konnte. Manche trugen auch das Handy wie eine milde Gabe vor sich her, als wären sie einer der heiligen drei Könige und wollten dem Jesuskindlein zur Geburt ein iPhone schenken, um es von der Langeweile im Stall zu Bethlehem zu erlösen. Andere hielten sich das am Kopfhörerkabel befestigte Mikrofon derart umständlich vor den Mund, dass man sich darüber wunderte, ob nicht das einfache Ans-Ohr-Halten die elegantere und praktischere Lösung gewesen wäre. Die ganz wichtigen hatten ein Bluetooth-Headset und also nur einen kleinen Bügel am Ohr befestigt und wirkten damit sehr wallstreetig. Da man sich damit aber lächerlich macht, wenn man einem Bekannten ein Keksrezept ansagt, anstatt wichtige geschäftliche Dinge zu besprechen, ist das Bluetooth-Headset bald wieder aus dem Alltag verschwunden.

Überhaupt scheint mir, dass nun wieder mehr Leute sich trauen, das Handy ans Ohr zu halten. Man wusste ja lange nicht, wie sich das mit der sogenannten "Handystrahlung" genau verhielt. Eigentlich weiß man das auch jetzt noch nicht. Aber man ist draufgekommen, dass man es vielleicht doch aushält, während eines Gesprächs mit einem Freund oder einer Freundin nicht mit dem Smartphone spielen zu können. Außerdem war das ganze Kabelzeugs dann halt doch nicht so der Bringer: Jahrzehntelang arbeitete man daran, antennenlose Schnurlostelefone zu entwickeln, um sich dann erst recht wieder Schnüre in die Telefone zu stecken. Und: Mit einem Handy am Ohr kann man glaubwürdiger so tun, als telefoniere man mit jemandem, wenn man in Wirklichkeit nur dem Gespräch mit einer unangenehmen Person in der Nähe entgehen will. Man stelle sich einmal vor, jemand stünde einfach so da und spräche in das Nichts hinein, um von einer anderen anwesenden Person nicht behelligt zu werden. Das wäre schon sehr sonderbar.

Der Mann am anderen Ende der Straße jedenfalls spricht immer noch vor sich hin. Ich habe mich dafür entschieden, dass er zu alt für ein Headset ist und also gerade nicht telefoniert. Es handelt sich um einen guten, alten Irren, einen vor sich hin brabbelnden Verrückten, einen Gestörten! Eh arm, aber ich freue mich gerade so, dass es noch tatsächlich Menschen gibt, die mit sich selbst sprechen und auch tatsächlich einen an der Waffel haben und nicht bloß irrtümlich für solche gehalten werden und man dann draufkommt, dass es sich eigentlich um Telefonierende handelt. Als die Ampel grün wird und wir beide die Straße überqueren, hat der verrückte seine zweifelhafte Natur gänzlich verloren. Ich würde ihn am liebsten in die Arme schließen und ihm danken, dass es noch solche wie ihn gibt.

In Zukunft aber werde ich wieder vor das Problem gestellt werden, mich für eine Interpretation entscheiden zu müssen, wenn ich vor sich hin sprechende Menschen sehe. Irre oder nicht? Telefonierer oder Wahnsinniger? Und ich werde mich wieder zu täuschen beginnen und Gesunde für Kranke halten oder umgekehrt. Denn schließlich, so sagte mal ein Königsberger Philosoph, richten sich die Objekte nach der Erkenntnis, und nicht die Erkenntnis nach den Objekten. Diese kopernikanische Wende habe ich nun auch für den Alltag geltend machen können. Darüber freue ich mich, denn von nun an wird meine Welt wieder von mehr Irren bevölkert werden. Und die sind so erfrischend anders!

Freitag, 9. Dezember 2011

Der Wichtigtuer - ein Niedergang


Laut Egon Friedell gibt es für jede Zeit einen „Repräsentativmenschen“, einen Menschen also, der für seine Zeit typisch ist, der ihre Ideen und Konzepte verkörpert. Dabei handelt es sich nie um individuelle Menschen, sondern um einen idealen, prototypischen Charakter, der alle Absonderlichkeiten seiner Zeitgenossen in sich vereint. Zwischen 1815 und 1848 etwa gab es den Beidermeier, in den 1980ern den Yuppie und hier zeigt sich schon, dass solche Charaktere nicht nur Kinder ihrer Zeit, sondern vor allem ihrer jeweiligen Sozietät sind. So fragwürdig das Postulat eines Repräsentativmenschen auch sein mag, ist es doch unbestreitbar, dass uns genau so einer vorschwebt, wenn wir über Zeiten, Völker oder Regionen sprechen.

Jede Zeit hat ihre Geister, und so müssen wir uns fragen, welche Geister „unsere“ Zeit hervorgebracht hat. Was ist der Repräsentativmensch unserer Gegenwart und wie zeigt er sich uns? Meiner Meinung nach ist es der Wichtigtuer. Ein Mensch, der sich selbst wichtiger nimmt als nötig und im gleichen Schritt allen anderen unterstellt, sie würden selbst nicht wichtig genug sein und ihn, den Wichtigtuer, nicht wichtig genug nehmen. Zudem zeichnet sich der Wichtigtuer dadurch aus, dass er einen unbedingten Drang zum Erfolg hat. Erfolg stellt sich bei ihm nicht ein, Erfolg ist der Zweck allen Handelns und um den Erfolg zu erlangen, ist ihm jedes Mittel recht. Den Erfolg, ist er ihm einmal beschieden, braucht er nicht unbedingt, um sich darin zu sonnen (dafür besucht der Wichtigtuer Solarien oder wählt wichtige, sonnige Urlaubsdestinationen), sondern vor allem, um ihn anderen unter die Nase zu reiben. Und: Einmal erreicht, dient ihm der Erfolg zur Rechtfertigung aller seiner Schandtaten (iustificatio a posteriori).

Dass dem Wichtigtuer der Schein heilig ist und sich das Sein erst über den Schein einstellt, erkennt man an dem Heiligenschein, den er stolz durch die Welt trägt. Schuld ist er an nichts, denn um schuldig zu sein, ist er viel zu wichtig – und außerdem: Sein Erfolg gibt ihm immer Recht. Es ist ein wasserdichtes Lügenkonstrukt, das er gesellschaftliches Leben nennt, gebaut auf dem Fundament maßloser Selbstüberschätzung und Standesdünkel (Stichwort „Klassenkampf von oben“). Sein Überleben garantiert die andauernde Auseinandersetzung mit ihm durch andere. Man muss sich für ihn interessieren, sonst verliert er seinen Zweck und seine Selbsterfindungsmaschine läuft leer. Um interessant zu bleiben, tut er so ziemlich alles. Sollte dabei etwas schief gehen, nennt er sein Unternehmen „vorerst gescheitert“.

Damit ist auch schon ein Exemplar dieses Typus benannt: Karl-Theodor zu (!) Guttenberg, und das am besten noch mit „Freiherr“ vorne dran, wenn ihm schon der Doktor abhanden gekommen ist. Seine mediale Selbstinszenierung bis zum Dissertations-Eklat war geprägt von ganz offen zur Schau getragenen Narzissmus und trotzdem gelang es ihm, die Mehrheit der Deutschen davon zu überzeugen, dass er anders wäre als die anderen Politiker. Jung und erfolgreich: Dieses Begriffspaar dient am besten zur Beschreibung der sozialen Wahrnehmung eines Wichtigtuers. Dass ein Teil dieses Erfolgs Guttenberg mit dem adeligen Erbe in die Wiege gelegt wurde, dafür kann er nichts. Dafür aber, dass ein anderer Teil seines Erfolgs (der Doktortitel) ihm zu unrecht zukam, kann er sehrwohl etwas. Doch das will er nicht einsehen. Der Rest seines Erfolgs bleibt ein scheinbarer, denn über seine Errungenschaften während seiner politischen Hochzeit, ist man sich nach wie vor im Unklaren.

Da hat es sein österreichisches Pendant schon etwas leichter. Denn er wird immer noch von vielen als der „beste Finanzminister der Zweiten Republik“ bezeichnet. Das muss Karl-Heinz Grasser jedoch damit büßen, dass er ein bisschen tiefer im Schlamassel steckt als Guttenberg. Seine ekelhafte Fönfrisur blieb bisher nur deshalb von dem Dreck, in dem er steckt, unbehelligt, weil er es nach wie vor ganz gut versteht, sich selbst am Schopfe wieder rauszuziehen. Ansonsten nimmt auch er sich wichtiger als er eigentlich ist. Peinliches Zeugnis war sein TV-Auftritt, in dem er, der Obernarziß, schamlos aus einem Fanbrief zitierte, wo doch tatsächlich sinngemäß drinnen stand, dass er zu schön, zu gut und zu erfolgreich für die österreichische Neidgesellschaft sei. Dass sich solche Gedanken in den Köpfen mancher Bürger finden lassen, überrascht nicht. Dass aber Grasser selbstverliebt genug ist, einen solchen Brief der Öffentlichkeit vorzulesen, macht fassungslos. Auch er eine Existenz ohne Essenz, ein Typus mehr als ein Charakter, eigentlich eine traurige Schaubudenfigur in einem Stück, das hoffentlich bald niemanden mehr interessiert...

Doch Wichtigtuer lassen sich nicht nur in der Politik finden (andere Beispiele sind natürlich Gadaffi, Berlusconi, Putin, Chavez, Castro, Ahmadinedschad). Auch gibt es volksnähere Wichtigtuer für die sogenannte Unterschicht, die im Populärkulturbetrieb. Dazu zählen nicht nur gefühlt alle deutschen Rapper, sondern vor allem auch Dieter Bohlen. Dem gibt der Erfolg nämlich auch überhaupt nicht recht. Er mag vielleicht etwas von Popmusik verstehen (tut er das wirklich?), aber rechtfertigt das sein Benehmen, seine Dauerpräsenz, seine Sendungen und das, was er darin macht? Überdies verkörpert Dieter Bohlen eine Seite des deutschen massentauglichen Wichtigtuertums, die sich mit den Requisiten La-Martina-Hemd, Dummchen mit Hündchen als Freundin, Lieblingsdomizil Mallorca und Jet-Set-Koketterie als redundant, fast schon gestrig wirkend ausnimmt. Womöglich handelt es sich bei Bohlen um einen der letzten seiner Art, um die Krone der Schöpfung im Reich der Bobo-Popstars.

Überhaupt scheint mir die Ära des Wichtigtuers bald zu Ende zu gehen. Mit dem Erwachen der Krisengesellschaft und dem allgemeinen und wiedererstarkten Misstrauen in die fachlichen Fähigkeiten von Politikern wird auch der Wichtigtuer zunehmend kritischer beäugt. Man nimmt ihm seinen Schmäh nicht mehr ab bzw. vermutet man hinter seiner lästigen Selbstdarstellung immer öfter einen psychischen Defekt (Kompensationsverhalten) und hält Leute wie ihn für die eigentliche Wurzel allen gesellschaftlichen Übels. Die verzweifelte Reaktion des Wichtigtuers ob dieser fortschreitenden gesellschaftlichen Marginalisierung, die sein Typus erfährt, ist das Burn-Out. Hier hängt er wie Jesus am Kreuz und schluchzt Mitleid heischend in die Welt hinaus, wie schlecht es ihm doch ginge, dass auch er Opfer des Systems sei und nun, unverdientermaßen krank geworden, sein Joch nicht mehr zu tragen fähig ist. Man möge ihn durch Beachtung erlösen oder ihm zumindest eine entsprechende Abfindung zahlen, damit er sich aus dem Staub machen und endlich in der Versenkung verschwinden kann, um dann ein paar Jahre später wieder in einer Fernsehsendung nach dem Motto „Was wurde eigentlich aus...“ wieder aufzutauchen und entschuldigend in die Kamera grinsen zu können – im Privatfernsehen versteht sich, denn das ist sein angestammtes Soziotop. Das Dschungelcamp gibt es ja leider nicht mehr, aber bis dahin wird sich schon etwas anderes (er)finden lassen.

Ein Licht am Ende des Tunnels möchte ich den gerade erst begonnenen Niedergang des Wichtigtuers nicht nennen. Aber dennoch bietet sich eine Chance für einen Neubeginn im Sinne einer Reinterpretation dieser Figur. Wichtigtuer hat es nämlich auch vorher schon gegeben. Da war zum Beispiel jene Generation, die den Krieg überlebt und aus seinen Folgen gelernt hat. Eine Generation, die sich in Demut geübt und, davon ausgehend, das Sich-wichtig-Machen als „rhetorischen Lebensentwurf“ dazu nützte, um tatsächlich auch wichtig zu sein. Der Unterschied zu der heutigen Generation von Wichtigtuern ist neben der erwähnten Gründung in Demut das intellektuelle Kapital, das diese Wichtigtuer hatten. Sie nahmen sich wichtig und die Leute waren dankbar dafür. Sie nahmen sich wichtig und durften es auch, weil sie das nötige Rüstzeug dafür mitbrachten: Intelligenz, Denkbereitschaft, Umsicht und Geschichtsbewusstsein. Außerdem waren sie nicht bildungsfern, ganz im Gegenteil möchte man sie fast gelehrt nennen (auch in dieser Hinsicht ist Guttenbergs Doktorarbeits-Skandal mehr als nur ein akademisches Sandkastengeplänkel). Wenn Hemlut Schmidt einmal das Zeitliche segnet, wird vielleicht der letzte dieser Generation gegangen sein.

Dass der Wichtigtuer Repräsentativmensch unserer Zeit ist, mag unserer Gesellschaft kein gutes Zeugnis ausstellen. Aber es lässt zumindest Raum für Ärger und Unmut über Inkompetenz an falschen Orten. (Damit meine ich jetzt nicht die occupy-Bewegung, deren Feindbild ein Konglomerat aus höchst diffusen und allgemeinen Konzepten ist.) Es lässt Zeit, wieder Demut zu lernen und dabei bleibt zu hoffen, dass es diesmal keinen Krieg dazu braucht - obwohl die Verliebtheit der westlichen Gesellschaft in apokalyptische Szenarien dies nahe leg:. Was früher die Angst vor einem Krieg war, ist heute die Angst vor Umweltkatastrophen und/oder Seuchen a la EHEC, Vogel-, Schweine- und sonstigen Grippen, HIV etc. oder die Angst vor dem „Umsturz der Verhältnisse“ (Kleist) in Form von irgendwelchen Systemkrisen. Vielleicht entdeckt die nächste Generation, dass Kompetenz nicht immer nur „Inkompetenzkompensationskompetenz“ (Odo Marquard) sein kann. Und vielleicht tun wir uns dann auch wieder leichter damit, Anerkennung denjenigen zukommen zu lassen, denen Anerkennung gebührt (was uns momentan ja noch durch die Mechanismen der sogenannten „Neidgesellschaft“ großteils verwehrt bleiben muss) und vor allem im Gegenzug jenen Anerkennung zu verwehren, denen sie nicht gebührt.

Das Beklatschen und Verhätscheln von nicht Beklatschens- und Verhätschelnswerten ist im übrigen nicht unwesentlich der political correctness geschuldet, von der sich zu verabschieden das Programm einer „neuen“ Aufklärung sein muss. Die denkbehindernde und denkverhindernde Wirkung der political correctness ist mit den repressiven Gedankenkonstrukten eines religiösen Fundamentalismus vergleichbar. Die Wichtigtuer haben die Spielregeln der PC gekonnt genutzt und ausgenutzt, und zwar solange, bis sie selbst zu politisch korrekten Heiligenfiguren wurden und sich damit jeglicher Kritik entzogen haben. Der langsame aber stetige Niedergang dieser Heiligenverehrung ist die Götzendämmerung unserer Zeit. Die Aufhebung von Denkverboten bedeutet jene Freiheit, die wir einmal gemeint haben, da wir das Wort „Freiheit“ zum ersten Mal in den Mund nahmen. Doch sie fiel dem Misstrauen gegenüber bzw. der Angst vor der selbstregulativen Funktion des Denkens, dass alles denkbar sein muss und sich das am besten Denkbare durchsetzen wird (= Rational-Darwinismus), zum Opfer.

Dem Wichtigtuer weinen wir keine Träne nach, denn wir erkennen, dass wir uns geirrt haben. Und Irren ist nicht nur menschlich, weil es der Mensch tut, sondern vor allem weil es die conditio humana selbst ist (Goethe). Erst aber das Erkennen des Irrtums ist das wahre Denken und erst das Eingestehen des Irrtums ist wahre Demut. Deswegen kann Karl-Theodor zu Guttenberg nicht eingestehen: weil ihm als Wichtigtuer die Demut fehlt.

Montag, 5. Dezember 2011

Vonn won

Wie halte ich das als Gebührenzahler aus? Nicht, dass ich jetzt der gefühlte millionste Kritiker des ORF-Sportprogramms sein muss oder gar will. Aber wenn man schon nicht darauf verzichten kann, nun auch Damenskispringen zusätzlich zum ohnehin unnötigen Herrenskispringen zu zeigen, und man auf ORF1 etwas anderes als Ski alpin, Formel 1 und langweiligen Bundesligafußballpartien eh nichts mehr zu sehen bekommt (dass sogar Wetten dass...? auf ORF2 verlegt wurde, ist ein Fanal!), dann müssen nicht auch noch die Kommentatoren durch Exklusivblödheit auffallen. Ich tu jetzt mal so, als würde ich viel und gerne fernsehen und mich das ernsthaft stören würde:

Ich verlange gar nicht, dass die alle Englisch können sollen. Fremdsprachenkenntnisse a la Pariasek sind ja ohnehin mehr drollig als peinlich. Aber wenn dann dauernd Lindsey Vonn, das US-Schatzerl unserer Nation (weil sie drüben leider keinen interessiert und weil sie unseren Damen meist davonfährt), zur "Lindsey Won" gemacht wird, frag ich mich schon, was da dahinter steckt. Will man so tun, als könnte man Englisch? Oder will man aus der Vonn eine amerikanische Asiatin machen? Wahrscheinlich soll wohl nur das Endresultat vorweg genommen werden und mit dem (paradoxen) Kommentar über das Auftauchen Vonns im Starthaus "Aber jetzt Lindsey Won" darauf aufmerksam machen, dass Lindsey schon gewonnen haben wird, sobald sie die Ziellinie überfährt.

Dabei machen es sich die Kommentatoren unnötig schwer. Das englische "w", das (hihi!) "Dabbel-Juh", gibt es im deutschen Lautbestand eh nicht. Gut also, dass das Englische "v" immer (immer!) genau so ausgesprochen wird wie unser deutsches "w". Also mit Zähnen auf den Unterlippen. Das bilabiale englische Dabbel-Juh hingegen schaut zuerst so aus, als wolle man jemandem ein Bussi geben, wonach sich die Lippen zu einem Ausdruck des Erstaunens öffnen; am besten zu beobachten in der amerikanischen Variante des "Wow!". Womöglich ist es das, was unsere Kommentatoren dazu verleitet, Laute zu produzieren, die sie gar nicht kennen sollten: Das Verlangen, der Lindsey ein Bussi mit auf den Weg zu geben, gepaart mit einem staunenden offenen Mund ob ihrer Bestzeit.

Ich will mich nicht über Leute aufregen, die irgendwas nicht richtig aussprechen können. Das ist kleinlich und gemein. Außerdem hat es schon auch Charme, wenn einer das nicht richtig kann; und was im Englischen noch relativ einfach ginge, wird bei slawischen oder gar arabischen Lautbeständen zu einer für den Laien schier unlösbaren Aufgabe. Was mich aber schon ein bisschen aufregt: Wenn man so tut, als spräche man etwas richtiger als andere aus und man es im selben Moment komplett falsch macht. In der Linguistik kann man so etwas Hyperkorrektur nennen. Das bedeutet im Grunde genommen, dass man sich so sehr bemüht, etwas richtig auszusprechen, dass es dann in vielen Fällen falsch wird: wie etwa, bei der Aussprache des Namens "Vonn" amerikanisch klingen zu wollen. Das erreicht man eher, indem man die Aussprache des "o" in Richtung "a" verschiebt. Mit dem "V" als Dabbel-Juh ist man jedoch auf dem ganz falschen Dampfer.

Vom debilen Gekichere manch anderer ORF-Kommentatoren und Co-Kommentatoren muss ich jetzt schweigen, denn darüber kann man nicht reden, sondern nur verständnislos den Kopf schütteln. Mir fiele auch noch ein gewisser Tennis-Kommentator ein, der ganz ohne Humor darauf hinweist, dass es "jetzt interessant ist, dass der Federer schon zum dritten Mal den Schläger gewechselt hat". Bald fällt einem Fußball-Kommentator vielleicht die besondere Trageweise der Stutzen eines Spielers auf, oder dass der Tormann sich öfter mal in die Hände spuckt. Mir hingegen fällt das ungeheure Talent der meisten ORF-Sportkommentatoren auf, am Geschehen, also am Sport, komplett vorbeizukommentieren. Angesichts der Begrenztheit des Gezeigten (damit meine ich das in Fernsehbilder übertragene Sportgeschehen, und zwar das und nur das!) ist das selbst schon eine fast sportliche Leistung.